Von Peter Wessel Zapffe
Ein Essay von Peter Wessel Zapffe, datiert auf das Jahr 1933, ursprünglich auf norwegisch in Janus #9 veröffentlicht; ins Deutsche übersetzt.
Diese Übersetzung ist in Arbeit. Der Text wurde punktuell mit Informationen ergänzt und einige Stellen wurden gestrichen. Die Ergänzungen und Änderungen finden sich in den Klappentexten, die mit einem Klick auf das Symbol angezeigt werden können.
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I
1
Eines Nachts, vor langer Zeit, ist der Mensch erwacht und hat sich selbst erkannt.
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Er sah, dass er nackt war unter dem Kosmos, heimatlos in seinem eigenen Körper. Alle Dinge lösten sich vor seinem prüfenden Auge auf, Wunder über Wunder, Schrecken über Schrecken entfalteten sich in seinem Geist.
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Und als es Zeit war zu jagen, nahm er Pfeil und Bogen, die Frucht der Verschmelzung von Menschengeist und Menschenhand, und ging hinaus unter die Sterne. Aber als die Tiere zur Wasserstelle kamen, wo er sie aus Gewohnheit erwartete, fühlte er nicht mehr die Fesseln des Tigers in seinem Blut, sondern eine unendliche Ruhe. Er fühlte sich als Teil der Leidensgemeinschaft aller Lebewesen.
In Zapffes Original wird der vorstehende Absatz mit «Da vaaknet ogsaa kvinden og sa at det var tid at gaa ut og slaa noget ihjel» eingeleitet, zu Deutsch «Da erwachte auch die Frau und sagte, es sei Zeit, loszuziehen und zu jagen». Zapffe, wie viele Philosophen und der Grossteil der Gesellschaft dieser Zeit, unterlag einem Frauenbild, das heute nicht mehr nachvollziehbar ist. Im Kontext dieses ersten Kapitels beschränkt sich die Frau darauf, den Mann zu wecken und auf die Jagd zu schicken. Zu mehr ist sie nicht auserkoren. In dieser Übersetzung wird konsequent nicht mehr vom Manne, sondern vom Menschen gesprochen. Das Geschlecht spielt keine Rolle.
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An diesem Tag ist er nicht wie sonst mit Beute nach Hause zurückgekehrt, sondern ferngeblieben. Und als sie ihn beim nächsten Neumond fanden, sass er tot an der Wasserstelle.
II
5
Was war geschehen? Ein Bruch in der Einheit des Lebens, ein biologisches Paradoxon, eine Abscheulichkeit, eine Absurdität, eine Übertreibung katastrophalen Ausmasses, könnte man sagen. Ein Lebewesen hat seine Grenzen überschritten und ist im Begriff, sich selbst zu vernichten. Eine Spezies hat sich mit einer zu mächtigen Waffe ausgestattet – mit einem übermächtigen Geist, der für den Menschen zur Bedrohung seines eigenen Wohlergehens geworden ist. Eine Waffe wie ein Schwert ohne Griff und ohne Schutz, eine zweischneidige Klinge, die alles durchtrennt. Wer eine solche Waffe führt, muss die Klinge ergreifen und richtet sie unweigerlich gegen sich selbst.
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Trotz der neuen Macht bleibt der Mensch Teil der alten Welt. Seine Seele bleibt mit der irdischen Materie verwoben und ihren blinden Naturgesetzen unterworfen. Dennoch ist es ihm gelungen, sie als Aussenstehender zu betrachten, sich mit anderen Erscheinungen zu vergleichen, seine eigene Biologie zu durchschauen und einzuordnen. Er stösst zur Natur wie ein ungebetener Gast, ein Gast, der vergeblich die Arme ausstreckt, um sich mit seiner Schöpferin zu versöhnen: Die Natur aber antwortet ihm nicht mehr; sie hat am Menschen ein Wunder vollbracht und ihn danach verstossen. Der Mensch hat sein Bleiberecht im Universum verwirkt, er hat vom Baum der Erkenntnis gegessen und ist aus dem Paradies vertrieben worden. Er ist zwar mächtig in der Welt, die ihn umgibt. Zugleich verflucht er seine Macht, weil er sie mit seiner Unschuld und seinem inneren Frieden erkaufen musste, mit dem inneren Frieden, den ihm die Umarmung des Lebens zuvor geschenkt hatte.
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Da steht er nun mit seiner Erkenntnis, verraten vom Universum, und wartet in Staunen und Furcht. Natürlich weiss auch jedes Tier, was Angst ist. Wenn es vor einem Unwetter flieht oder vor einem hungrigen Löwen. Für das Tier war das Leben die Kraft im Spiel zu spüren, es war Brunft und Kampf und Hunger, um sich dann endlich dem Gesetz der Natur hinzugeben. Beim Tier ist das Leiden selbstbegrenzt, beim Menschen ist es die Angst vor der Welt und die Verzweiflung am Leben: Schon während ein Kind erst den Weg des Lebens betritt, erhebt sich über ihm das tosende Brausen des Todes wie ein Wasserfall über dem Tal, immer näher kommend und an seiner kindlichen Freude nagend. Der Mensch schaut auf die Erde und sieht sie atmen, einer grossen Lunge gleich. Wenn sie ausatmet, strömt herrliches Leben aus allen Poren und streckt sich der Sonne entgegen; wenn sie einatmet, geht ein Stöhnen der Verzweiflung durch die Menge, und die Leichen peitschen wie Hagelschauer zu Boden.
Zapffes Überlegung zur Selbstbegrenztheit des tierischen Leidens erinnert an Schopenhauer: «Das Thier lebt ohne eigentliche Kenntniß des Todes: daher genießt das thierische Individuum unmittelbar die ganze Unvergänglichkeit der Gattung, indem es sich seiner nur als endlos bewußt ist. Beim Menschen fand sich, mit der Vernunft, nothwendig die erschreckende Gewißheit des Todes ein.» (Schopenhauer, Kap. 41 Ueber den Tod und sein Verhältniß zur Unzerstörbarkeit unsers Wesens an sich aus: Die Welt als Wille und Vorstellung, zweiter Band, 1886).
Ist man ehrlich, muss sich bei Betrachtung dieser Annahme sofort die Frage stellen, woher Zapffe wie auch Schopenhauer und wohl ein ganz überwiegender Teil der Menschheit von dieser Selbstbegrenztheit beim Tier überhaupt wissen wollen. Oder ist es bloss ein Glaube an eine solche Begrenztheit und gar kein Wissen? Die Annahme einer tierischen Selbstbegrenztheit des Leidens lässt sich wissenschaftlich nicht stichhaltig beweisen. In den Mechanismen Zapffes gedacht, liegt hier nichts anderes vor als eine Verankerung. Diese Verankerung (zu diesem Mechanismus siehe Rz 22) gilt es zu zerstören.
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Der Mensch hat sein eigenes Sterben begriffen, und im Anblick der Friedhöfe, die sich vor ihm winden, hört er das Wehklagen von Tausenden von Generationen zerfallener Gestalten unter den längst mit Gras überwachsenen Feldern. Der Vorhang der Zukunft hat sich vor ihm gelüftet, er hat sich wie ein Schleier gehoben und den Blick freigegeben auf das, was auf ihn zukommt, einen Alptraum endloser Wiederholung, ein sinnloses Durcheinander organischer Materie. Sein Mitgefühl hat die Tore geöffnet, damit das Leid von Milliarden von Menschen in ihn eindringen und mit schrecklichem Gelächter nach der Gerechtigkeit fragt; dem edelsten Prinzip des Menschen. Der Mensch sieht sich im Mutterleib heranwachsen, er sieht, dass seine Hand fünf Finger hat und fragt sich: Woher kommt diese teuflische Fünf? Und was hat das mit meiner Seele zu tun? Er versteht sich selbst nicht mehr, spürt seinen Körper nur noch mit Schrecken: «Das bin ich, bis hierher reiche ich und nicht weiter. Mein Körper trägt eine Mahlzeit in sich, gestern war es noch ein Tier, das von selbst herumlief, jetzt nehme ich es in mich auf und mache es zu einem Teil von mir. Wo fange ich an? Wo höre ich auf?» Alles hängt zusammen, Ursache und Wirkung. Und alles, was der Mensch zu begreifen versucht, löst sich vor seinem prüfenden Auge auf. Selbst bei seinen Nächsten greift diese Mechanik, im Lächeln seiner Liebsten, ein solches Lächeln gibt es auch anderswo, es ist nichts anderes als ein ausgetretener Schuh. Die Eigenschaften aller Dinge sind letztlich nur Eigenschaften des Menschen selbst. Nichts existiert ohne ihn, die Welt ist nur ein geisterhaftes Echo seiner eigenen Stimme. Mit lautem Geschrei erhebt sich der Mensch und versucht, das unreine Mahl auf den Boden zu erbrechen; er fühlt den Wahnsinn kommen und sucht den Tod, bevor er es selbst nicht mehr kann.
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Wenn er dann dem Tod unmittelbar ins Auge blickt, erkennt er sein Wesen und die kosmische Dimension des Schrittes, den er tun wird. Seine Vorstellungskraft erschafft eine neue, unheimliche Welt hinter dem Vorhang des Todes, und er begreift, dass es selbst im Tod keine Zuflucht gibt. Jetzt erkennt er die Konturen seiner kosmisch-biologischen Situation: Er ist der hilflose Gefangene des Universums, gefangen in namenlosen Möglichkeiten.
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Von diesem Moment an lebt er in einem Zustand permanenter Panik.
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Dieses «Gefühl kosmischer Panik» ist für den menschlichen Geist von zentraler Bedeutung. Der Mensch scheint so sehr zur Zerstörung bestimmt zu sein, dass seine Bemühungen, das Leben zu erhalten und fortzusetzen, unmöglich sind, weil er seine ganze Aufmerksamkeit und Energie darauf richtet, diese katastrophale Hochspannung in sich auszuhalten und darauf zu reagieren.
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Das Aussterben einer Art wegen der Überentwicklung einer einzigen Fähigkeit ist eine Tragödie, die nicht nur den Menschen betrifft. Es gibt Hirsche, – so glaubt man – die in paläontologischen Zeiten ausstarben, weil ihre Hörner zu gross wurden. Solche Mutationen der Natur scheinen blind zu geschehen: sie entwickeln sich ohne Rückkopplung mit der Umwelt und wirken sich am Ende unter Umständen negativ aus.
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In einem depressiven Zustand gleicht das Gemüt einem solchen Geweih: Es wirft seinen Träger in all seiner phantastischen Pracht zu Boden.
III
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Warum aber ist dann die Menschheit vor nicht allzu langer Zeit während den grossen Seuchen nicht ausgestorben? Warum gehen nur relativ wenige Menschen zugrunde, obschon sie den Strapazen des Lebens nicht gewachsen sind, obschon ihr Bewusstsein ihnen mehr gibt, als sie ertragen können?
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Die Kulturgeschichte, aber auch die Beobachtung von uns selbst und unseren Mitmenschen legt folgende Antwort nahe: Die meisten Menschen haben gelernt, sich zu retten, indem sie ihr Bewusstsein künstlich einschränken.
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Hätte der Riesenhirsch von Zeit zu Zeit die äusseren Gabeln seines Geweihs abgebrochen, hätte er vielleicht noch eine Weile weiterexistieren können. Doch stattdessen hat er in Fieber und ständigem Schmerz an seiner Besonderheit festgehalten, schliesslich war er von der Schöpfung dazu bestimmt, der Hornträger der wilden Tiere zu sein; alles andere wäre Verrat an sich selbst gewesen. Wie sein Geweih an Stärke gewann, so gewann er an Bedeutung. Aber im gleichen Masse, wie er an Bedeutung gewann, verlor er an Lebensqualität. Der Riesenhirsch klammerte sich an sein Geweih, so hoffnungslos, wie ein Marsch, nicht um sich etwas zu beweisen, sondern als selbstzerstörerischer Wettlauf gegen sich selbst, weiter durch immer wieder neu geschaffene Ruinen.
Der letzte Satz dieses Absatzes wurde minim gekürzt von zuvor «…, sondern weiter durch seine immer wieder neu geschaffenen Ruinen, einen selbstzerstörerischen Wettlauf gegen den heiligen Willen des Blutes.»
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Für den Riesenhirsch waren Lebensziel und Untergang dasselbe, sie waren identisch. Für beide, Mensch wie Riesenhirsch, ist dies das tragische Paradox des Lebens. Der letzte Cervis Giganticus trug in hingebungsvoller «Bejahung» das Zeichen seiner Abstammung bis an sein Ende. Der Mensch hingegen rettet sich und macht weiter. Er verdrängt manchmal bewusst, manchmal unbewusst seinen schädlichen Bewusstseinsüberschuss. Das tut er praktisch ständig während seiner wachen und aktiven Stunden. Dieses Verdrängen ist die Voraussetzung für soziale Anpassungsfähigkeit und für alles, was wir gemeinhin als gesundes und normales Leben bezeichnen.
Der von Zapffe verwendete Begriff der «Bejahung» dürfte sich auf Nietzsche beziehen. Nietzsche hat in seinem Buch «Die fröhliche Wissenschaft» mit «Bejahung» den Zustand der höchstmöglichen Bestätigung des Lebens durch den Menschen, eben eine «Bejahung», zum Ausdruck gebracht.
«Ich will immer mehr lernen, das Nothwendige an den Dingen als das Schöne sehen: – so werde ich Einer von Denen sein, welche die Dinge schön machen. Amor fati: das sei von nun an meine Liebe!» (Nietzsche, «Die fröliche Wissenschaft», 276)
Martin Heidegger interpretiert diese «Bejahung» wie folgt: «Amor – die Liebe, nicht als eine Sentimentalität, sondern metaphysisch als Wille, der Wille, der will, daß das Geliebte in seinem Wesen sei, was es ist.[…] Amor fati ist der verklärende Wille zur Zugehörigkeit zum Seiendsten des Seienden. Das fatum ist wüst und wirr und niederschlagend für den, der nur dabeisteht und sich davon befallen läßt. Das fatum aber ist erhaben und die höchste Lust für den, der weiß und begreift, daß er, als Schaffender, und d. h. immer als Entschiedener, dazugehört.» (Heidegger, «Nietzsche I», S. 232, 1961)
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Die Psychiatrie geht sogar davon aus, dass das «Gesunde» und Lebensfähige zu den höchsten Werten eines Menschen gehört. Depressionen, «Lebensangst», Nahrungsverweigerung usw. werden stets als Zeichen eines pathologischen Zustandes gedeutet und entsprechend behandelt. Oft sind solche Zustände jedoch Botschaften einer tieferen und unmittelbareren Lebenswahrnehmung oder auch Botschaften der Wahrnehmung eigener lebensfeindlicher Tendenzen. Nicht die Seele ist krank, viel mehr hat der Schutzmechanismus der Seele hat. Oder er wird vom Menschen gar grundsätzlich abgelehnt, weil er – zu Recht – als Verrat an der höchsten Fähigkeit des eigenen Ichs empfunden wird.
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Das gesamte Leben, das uns heute vor Augen liegt, ist durchdrungen von gesellschaftlichen und individuellen Mechanismen der Verdrängung, die sich bis in die banalsten Formen des Alltagslebens nachweisen lassen. Sie bilden eine bunte und unüberschaubare Vielfalt, dennoch scheint es angebracht, vier von ihnen als Grundtypen zu nennen, die, was sich von selbst versteht, in allen denkbaren Kombinationen auftreten können:
Isolation, Verankerung, Ablenkung und Transformation.
Im norwegischen Original von Zapffe wird anstelle «Transformation» der Begriff «sublimationen», also Sublimation resp. Sublimierung verwendet, vgl. dazu die ergänzenden Ausführungen bei Rz 40 unten.
Wer mit seinem Bewusstsein nicht umzugehen vermag, lenkt sich ab. Zapffe hat vier Mechanismen identifiziert, mit denen der Mensch sein Bewusstsein im Zaum halten, es sozusagen auf ein erträgliches Mass beschränken kann. Tut er dies nicht, ist er mit einem permanenten Gefühl «kosmischer Panik» konfrontiert. Der Mensch muss sich nach dem Sinn seines Daseins fragen. Einer der Mechanismen zum Schutze vor dem eigenen Bewusstsein ist die «Ablenkung».
Edward Hopper hat die Einsamkeit der modernen Grossstadt in den Mittelpunkt seines Schaffens gestellt. Sein Werk «Hotel Room» regt zum Nachdenken an und lässt die Zeit stillstehen. Wer Zeit hat, kann nachdenken. Wer nachdenkt, ist fähig, Bestehendes in Frage zu stellen und Neues zu erkennen.
Dong-Kyu Kim gibt in seiner Collage von Hoppers Gemälde der einsamen Frau ein Smartphone in die Hand: Vielleicht lenkt sie sich damit ab. Vielleicht glaubt sie, damit nicht mehr einsam zu sein. Vielleicht aber liest sie damit etwas nach, das sie zum Denken anregt.
Gemälde links: «Hotel Room» von Edward Hopper, 1931 / Collage mit Smartphone von Dong-Kyu Kim, 2013
(Quellen: Thyssen-Bornemisza National Museum /
Dong-Kyu Kim)
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Unter Isolation wird das bewusste Ausblenden belastender und destruktiver Gedanken und Gefühle aus dem eigenen Bewusstsein verstanden (Engstrøm: «Man skall inte tanka, det bara forvirrar», zu Deutsch: «Man soll nicht denken, das verwirrt nur»). Voll ausgeprägt und fast schon verroht kann Isolation manchmal bei Ärzten beobachtet werden, die aus Selbstschutz nur noch die fachliche Seite ihres Berufes sehen. Die Isolation kann aber auch in eine reine Opferrolle ausarten, z.B. beim gemeinen Pöbel oder bei Medizinstudenten, die jede Sensibilität für die tragischen Aspekte des Lebens durch eigene Gewaltanwendung (Fussball mit Kadaverköpfen etc.) abzutöten versuchen.
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Im Alltag zeigt sich der Mechanismus der Isolation im ungeschriebenen Gesetz, über Unangenehmes nicht zu sprechen. Wir verschweigen Unangenehmes zuerst den Kindern, damit sie nicht schon von vornherein Angst vor dem Leben haben, das sie gerade erst begonnen haben. Sie sollen die Hoffnung bewahren können, bis sie es ertragen, sie zu verlieren. Im Gegenzug sollen Kinder die Erwachsenen nicht mit unangenehmen Anspielungen auf Geschlechtsteile, Ausscheidungen und Tod belästigen. Unter Erwachsenen gelten die Regeln des «guten Tons». So wird ein Mann, der in der Öffentlichkeit weint, von der Polizei von der Strasse geleitet.
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Auch der Mechanismus der Verankerung wirkt von frühester Kindheit an; die Eltern, das Haus, die Strasse werden für das Kind selbstverständlich und geben ihm ein Gefühl der Sicherheit. Dieser Erfahrungskreis ist der erste und vielleicht glücklichste Schutz vor dem «Kosmos», den wir im Laufe unseres Lebens kennen lernen. Hier finden wir zweifellos auch eine Erklärung für die vieldiskutierte «infantile Bindung»; die Frage, ob diese auch Sexualität thematisieren sollte, ist in diesem Zusammenhang nicht relevant. Wenn ein Kind später merkt, dass diese verankerten Werte genauso «zufällig» und «vergänglich» sind wie alle anderen, erlebt es eine Krise der Hilflosigkeit und Angst und sucht sich sofort einen neuen Anker: Im Herbst komme ich auf die Mittelschule. Wenn dann die Aufnahme in die Mittelschule aus irgendwelchen Gründen nicht gelingt, kann die Krise entweder einen fatalen Verlauf nehmen, oder es kommt zu dem, was man Verankerungskrampf nennen könnte: Man klammert sich an seine toten Werte und verbirgt so gut es geht vor sich und den anderen, dass sie nicht mehr gelten, dass man seelisch bankrott gegangen ist. Die Folgen sind permanente Unsicherheit, Minderwertigkeitsgefühle, Überkompensation, Nervosität. Einige dieser Zustände werden psychoanalytisch behandelt, um neue Werte zu verankern.
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Verankerung könnte man als das Einschlagen von Pfeilern in das ständig fliessende Chaos des Bewusstseins bezeichnen. Oder als das Errichten einer Mauer um dieses Chaos herum. Verankerung geschieht in der Regel unbewusst, kann aber auch bewusst erfolgen, man «setzt sich ein Ziel». Wohltätigen Verankerungen wird mit Sympathie begegnet, der Mensch, der sich für seinen Anker (z.B. das Unternehmen, die Sache) «aufopfert», wird als Vorbild gepriesen. Ein solcher Mensch hat ein mächtiges Bollwerk gegen das Bewusstsein um die Vergänglichkeit des Lebens geschaffen, von dessen Kraft als Vorbild andere profitieren können. In banaler Form, als bewusstes Handeln, können wir diese Verankerung bei «schlüpfrigen» Lebemännern beobachten: «Man muss rechtzeitig heiraten, dann kommen die Schranken von selbst». Hier wird eine Lebensnotwendigkeit konstruiert, nämlich das Ablassen von einem aus eigener Sicht offensichtlichen Übel. Es wird eine Stütze für die eigenen Nerven konstruiert, ein schönes Gefäss für ein allmählich verkümmertes Lebensgefühl. Ibsen gibt mit seinen literarischen Figuren Hjalmar Ekdal und Kandidat Molvik blühende Beispiele für eine solche «Lebenslüge»; es gibt keinen Unterschied zwischen ihrer Verankerung und der sozialen Unterstützung, ausser dass die Verankerung im praktisch-ökonomischen Sinne unfruchtbar ist.
Hjalmar Ekdal und Kandidat Molvik sind zwei Figuren aus Henrik Ibsens Tragikomödie «Vildanden» (zu Deutsch „Die Wildenten“), einem bekannten skandinavischen Theaterstück aus dem Jahr 1884, das bis in die jüngste Zeit immer wieder verfilmt wurde. Die Familie Ekdals lebt eine Lebenslüge und Gregers, ein Freund von Hjalmar Ekdal aus alten Zeiten will Hjalmar die Augen öffnen. Am Ende sterben Hjalmar, seine Frau Gina und zuvor ihre Tochter Hedvig auf tragische Weise. Weder die Randfigur Molvik, der im Stück die Theologie verkörpert, noch Relling, der die Medizin repräsentiert, können helfen. Relling hat Hjalmar zu dessen Selbstschutz ein Lebensziel eingeflüstert – eine Erfindung, deren Inhalt und Zweck Hjalmar erst noch finden muss.
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Jede Kultur ist ein grosses, geschlossenes System von Verankerungen, das auf einigen tragenden Säulen, den kulturellen Grundlagen, aufgebaut ist. Der Durchschnittsmensch kommt mit diesen tragenden Säulen zurecht, die Persönlichkeit bildet sich von selbst, und der Mensch vollzieht seine Entwicklung mehr oder weniger auf der Basis dieser ererbten kollektiven Grundlagen (Gott, Kirche, Staat, Moral, Schicksal, Lebensgesetz, Volk, Zukunft). Je stärker eine Säule kulturelle Grundlage ist, desto gefährlicher ist es, sie anzutasten. Oft werden diese Säulen direkt durch Gesetze und Strafen geschützt (Inquisition, Zensur, konservative Lebenshaltung).
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Der Fortbestand jeder dieser Säulen hängt entweder davon ab, dass man ihren fiktiven Ursprung noch nicht durchschaut hat oder davon, dass man sie trotzdem für notwendig hält, obwohl sie eigentlich als künstlich entlarvt wurden. Ein Beispiel dafür ist der Religionsunterricht in der Schule, der selbst von Atheisten als erhaltenswert angesehen wird, weil auch sie keine andere Möglichkeit sehen, ihre Kinder in die Gesellschaft und deren Bräuche zu integrieren.
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Einige Menschen bemerken den Schein und die Entbehrlichkeit der Verankerungen und versuchen, sie durch neue zu ersetzen; viele Wahrheiten haben bekanntlich nur eine begrenzte Lebensdauer. Daraus ergibt sich der ganze geistige und kulturelle Kampf, der zusammen mit dem wirtschaftlichen Wettbewerb den dynamischen Inhalt der Weltgeschichte ausmacht.
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Das Streben nach materiellen Gütern (insbesondere Macht) ist nicht so sehr auf den unmittelbaren Genuss von Reichtum zurückzuführen; niemand kann auf mehr als einem Stuhl sitzen oder sich mehr als satt essen. Vielmehr liegt der Wert eines Gutes darin, dass es dem Besitzer eine breite Palette von Verankerungs- und Ablenkungsmöglichkeiten bietet.
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Sowohl für kollektive als auch für individuelle Verankerungen gilt: Bricht sie weg, kommt es zur Krise. Diese Krise ist umso schwerwiegender, je näher die Verankerung an einer tragenden Säule steht. In geschlossenen Kreisen, in denen man sich gegen Aussenstehende abschottet, geschehen solche Krisen alltäglich und bleiben dabei relativ schmerzlos. Sie bleiben blosse Enttäuschungen. In solchen Gruppen kann man sogar ein Spiel mit Verankerungen beobachten, z.B. mit Witzen, Jargon oder Alkohol. Bei solchen Spielen kann man aber auch unbeabsichtigt ein Loch in den Boden schlagen und die Situation wandelt sich schlagartig von lustig zu makaber.
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Es ist selten möglich, Verankerungen zu ersetzen, ohne dass es zu schweren sozialen Verwerfungen und der Gefahr des völligen Zerfalls kommt (Reform, Revolution). In solchen Zeiten wird der Einzelne immer abhängiger von seiner eigenen Verankerungsfähigkeit, und die Zahl derer, die daran scheitern, nimmt tendenziell zu. Depressionen, Zügellosigkeit und Selbstmord sind die Folge (deutsche Offiziere nach dem Krieg, chinesische Studenten nach der Revolution).
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Eine weitere Schwäche des Systems besteht darin, dass die Verankerungen von den unterschiedlichsten Richtungen her angegriffen werden können. Wenn jede dieser Verankerungen logisch überbaut wird, kommt es letztendlich zu Kollisionen zwischen unvereinbaren Gefühls- und Gedankenkonstellationen. In die Risse zwischen ihnen kann Verzweiflung eindringen. In solchen Fällen kann der Mensch von der Lust an der Zerstörung besessen werden, den ganzen künstlichen Lebensapparat demontieren und sich mit lustvollem Entsetzen daran machen, das Chaos aufzuräumen. Das Gefühl des Schreckens entsteht durch den Verlust aller angenehmen Werte des Lebens, durch die Lust an der nunmehr rücksichtslosen Identifikation und Harmonie mit dem tiefsten Geheimnis unseres Seins, der biologischen Unhaltbarkeit, der permanenten Bereitschaft zur Zerstörung.
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Wir lieben Verankerungen, weil sie uns retten, und gleichzeitig hassen wir sie, weil sie unser Freiheitsgefühl einschränken. Wenn wir uns stark genug fühlen, ist es ein Vergnügen, gemeinsam einen ungelebten Wert mit aller Kraft zu Grabe zu tragen. Hier bekommt das Materielle eine symbolische Bedeutung (radikale Lebenshaltung).
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Wenn ein Mensch alle Verankerungen in sich, die er erkennen konnte, zerstört hat und nur noch die unbewussten Verankerungen übrig geblieben sind, ist er eine befreite Persönlichkeit.
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Ein beliebter Schutzmechanismus ist sodann die Ablenkung. Das Bewusstsein wird in einem gerade noch erträglichen Rahmen gehalten, indem es ständig mit neuen Eindrücken in Schach gehalten wird. Das ist schon für die früheste Kindheit typisch; ohne Ablenkung sind auch Kinder für sich selbst unerträglich. «Mama, was soll ich tun?» Das Phänomen ist so bekannt, dass es keiner weiteren Erklärung bedarf. Ablenkung ist die Lebensstrategie der «Gesellschaft». Sie kann mit einem Flugzeug verglichen werden – gebaut aus Materie und den Gesetzen der Schwerkraft unterworfen, aber mit einem Mechanismus, der das Flugzeug in der Luft hält, solange er funktioniert. Der Mechanismus muss immer in Bewegung bleiben, da die Luft das Flugzeug nur in diesem Moment tragen kann. Die tägliche Routine kann das Flugzeug träge und stabil machen, aber sobald der Motor ausfällt, kommt es zur Krise.
Zapffe fügte der Frage des Kindes, «Mama, was soll ich tun?», noch eine Anekdote an: «Ein kleines englisches Mädchen, das bei seinen norwegischen Tanten zu Besuch war, kam aus seinem Zimmer und fragte: ‹Was ist denn jetzt los?›, worauf die Kindermädchen zu Virtuosinnen wurden: ‹Schau mal, sie malen das Schloss an!›.» Ob es sich um eine persönliche Anekdote oder um eine Geschichte handelt, die 1933 allgemein bekannt war, lässt sich nicht mehr erschliessen.
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Die Strategie der Ablenkung wird oft bei vollem Bewusstsein verfolgt. Direkt darunter schlummert manchmal Hoffnungslosigkeit, die in plötzliches Schluchzen ausbrechen kann. Wenn jede Ablenkungsmöglichkeiten ausgeschöpft ist, tritt ein «Spleen» ein, der von leichter Gleichgültigkeit bis zur tödlichen Depression reicht.
In Zapffes Original endet dieser Abschnitt mit «Die Frau, die weniger zur Erkenntnis bereit ist als der Mann und daher lebensmüder, bevorzugt die Ablenkung.» (Im norwegischen Original «Kvinden, som forøvrig er mindre erkjendelsesreden end mandenog derfor mere livstryg, griper fortrinsvis til distraktion.»)
Darin ist der damalige gesellschaftliche Kontext und auch die Haltung Zapffes in der Zeit von 1933 gegenüber Frauen zu erkennen. Der Abschnitt wurde in dieser Übersetzung gestrichen; er enthält keinen Erkenntniswert. Die Fähigkeiten jedes Menschen hängt von der eigenen Sozialisation und dem erworbenen Wissen ab und hat nichts mit dem Geschlecht zu tun.
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Wird einem Menschen die Freiheit genommen, z.B. bei einer Freiheitsstrafe, besteht der wesentliche Teil des Übels, das man ihm zufügt, darin, dass die meisten Möglichkeiten der Ablenkung wegfallen. Weil auch die Chancen auf anderweitige Rettung schlecht sind, gerät der Gefangene oft an den Rand der Verzweiflung. Alles, was er dann tut, um dieses Stadium abzuwenden, hat seinen Grund im Prinzip des Leben selbst. In einem solchen Augenblick erfährt der Mensch seine Seele als Ganzes, und es gibt kein anderes Motiv mehr für sein Leben als die kategorische Unhaltbarkeit seines Zustandes.
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Lebenspanik in Reinform kommt vermutlich nicht häufig vor, da die Schutzmechanismen zu komplex und automatisiert sind und bis zu einem gewissen Grad permanent greifen können. Aber auch die Grenzbereiche zur Lebenspanik, in denen das Leben unter widrigsten Umständen noch fortgesetzt wird, tragen den Stempel des Todes. Der Tod bietet sich immer als Ausweg an. Man lässt sich die Möglichkeiten des Jenseits offen. Da der Tod als Erfahrung davon abhängt, wie man ihn empfindet und auffasst, kann er als Lösung durchaus akzeptabel sein. Wenn es gelingt, in statu mortis eine Pose (einen Vierzeiler, eine Geste oder «stehend sterben»), also eine letzte Verankerung oder eine letzte Entrückung (man denke zum Beispiel an Aases Tod) zu bewahren, dann ist dieses Schicksal gar nicht so schlimm. Die Zeitungen, die sich hier – einmal zur Abwechslung – des Mechanismus der Verschleierung bedienen, wissen immer Gründe zu finden, die beruhigen – «man glaubt, dass der letzte Rückgang des Weizenpreises…».
«Aases Tod» resp. «Åses død» ist ein Satz aus der Suite Nr. 1, op. 46 der Schauspielmusik Peer Gynt zum gleichnamigen dramatischen Gedicht von Henrik Ibsen (Volltext des Projekt Gutenbergs). Peer Gynt ist ein junger verelendeter Bauernsohn, der in Phantasiewelten lebt, um seine Situation zu ertragen. Nach einem Zeitsprung von mehreren Jahrzehnten ist Peer Gynt ein reicher Sklavenhändler, der nach und nach wieder sein gesamtes Habe verliert. In der Szene «Aases Stube» des dritten Akts stirbt Aase, die Mutter von Peer Gynt.
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Wenn sich ein Mensch in einer Depression das Leben nimmt, so ist dies ein natürlicher Tod aus geistiger Ursache. Die moderne Barbarei der «Rettung» von Selbstmördern beruht auf einem entsetzlichen Missverständnis der Natur des Daseins.
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Nur ein kleiner Teil der Menschheit ist in der Lage, mit nackter «Veränderung» umzugehen, sei es in der Arbeit, in der sozialen Interaktion oder im Vergnügen. Der menschliche Geist verlangt, dass jede Veränderung einen inneren Zusammenhang, eine stetige Linie, einen kontinuierlichen Fortschritt aufweist. Etwas sofort Endgültiges kann den Menschen auf Dauer nicht befriedigen; die Menschen sind immer in Bewegung, sammeln Wissen, machen Karriere. Dieses Phänomen nennt man «Verlangen» oder auch «transgressive Tendenz». Ist ein Ziel erreicht, geht das Verlangen weiter: nicht das erreichte Ziel, sondern die Leistung auf dem Weg dahin zählt – nicht die absolute Höhe, sondern die Steigung der Kurve. Die Beförderung vom Gefreiten zum Korporal hat vermutlich den grösseren Erfahrungswert als die vom Oberst zum General. Diese psychologische Grundregel zerstört jeden Ansatz von «Zukunftsoptimismus».
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Das menschliche Verlangen ist also nicht nur ein «Verlangen nach etwas», sondern ebenso sehr ein «Fliehen vor etwas». Und wenn wir das Wort nun in einem religiösen Sinn verwenden, ist die letztere Charakterisierung, also das Fliehen vor etwas, die einzig mögliche. Denn im Glauben wusste noch niemand, wonach er in seiner Religion verlangte. Dagegen war man sich immer sehr wohl bewusst, wovor man floh, nämlich vor dem irdischen Jammertal, also vor dem eigenen unhaltbaren Lebenszustand. Wenn das Gespür dafür in der tiefsten Schicht der Seele schlummert, ist es für jeden Menschen völlig verständlich, dass die religiöse Sehnsucht als grundlegend erlebt und empfunden wird. Der Mensch hofft, dass sein religiöses Streben zugleich göttliche Eigenschaft sowie göttliches Versprechen seiner eigenen Bejahung ist. Diese Hoffnung erscheint im Lichte des Gesagten in einem wahrhaft traurigen Licht.
«Wissen» ist nicht «glauben». Das Versprechen des Paradieses kann zwar geglaubt und danach verlangt werden, aber es gibt kein Wissen darüber. Die Menschen hingegen, so Zapffe, wissen genau, wovor sie fliehen, nämlich vor der eigenen Existenz, vor dem Chaos des Daseins, vor der kosmischen Panik. Sie fliehen beispielsweise in den Glauben.
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Der vierte Mechanismus, die Transformation, ist eher eine Umwandlung als eine Verdrängung. Mit Hilfe stilistischer oder künstlerischer Fähigkeiten kann der Schmerz des Lebens manchmal in einen erfahrbaren Wert verwandelt werden. Positive Impulse greifen ein und nutzen dieses Übel für ihre eigenen Zwecke, verwandeln es in seinen malerischen, dramatischen, heroischen, lyrischen oder auch komischen Gehalt.
In der Fassung Zapffes wird Anstelle des Begriffs «Transformation» das norwegische Wort «sublimationen» benutzt. Sublimation resp. Sublimierung ist ein Begriff aus der Psychiatrie und bedeutet im Wesentlichen, dass etwas auf eine andere und allenfalls höhere Ebene gehoben wird, als es eigentlich ist oder eine Umlenkung auf andere Ziele stattfindet. Zum Beispiel kann etwas negatives durch die Transformation neu definiert werden und erhält dadurch eine andere, positive Verankerung.
Ein alltäglicheres – und damit besser verständliches – Wort mit sehr ähnlichem Sinn ist «Transformation», welches für diese Übersetzung gewählt wurde.
«Der Wanderer über dem Nebelmeer» von Caspar David Friedrich aus dem Jahr 1818 kann als Allegorie auf das Leben gedeutet werden: Das Bild des erreichten Gipfels als Ziel des Lebens liegt dem Wanderer ebenso nahe wie der transzendente Blick in die Zukunft; Transzendenz hier im philosophischen Sinne. Der Mensch, so Zapffe, nutzt den Mechanismus der Transformation (bzw. Sublimation), um Schlechtes in Gutes zu verwandeln. Seinen Essay «Der letzte Messias» sieht Zapffe selbst als typisches Beispiel für diese Transformation. Er leidet nicht, er schreibt.
Gemälde links: «Der Wanderer über dem Nebelmeer» von Caspar David Friedrich, 1. Januar 1817
(Quelle: Hamburger Kunsthalle, gemeinfrei)
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Nur solange das Leiden nicht schon auf andere Weise seinen Höhepunkt erreicht hat und der Geist noch nicht völlig in Bedrängnis geraten ist, kann der Mechanismus der Transformation erfolgreich sein. Bildlich gesprochen: Der Bergsteiger geniesst den Blick in den Abgrund erst, wenn er vom Schwindelgefühl befreit ist; erst wenn dieses Gefühl wenigstens annähernd überwunden ist, kann er den Blick – eben neu verankert – geniessen. Um eine Tragödie schreiben zu können, muss man sich zunächst ein Stück weit vom tragischen Gefühl befreien – es sozusagen verraten –, um es dann erst von einem äusseren, z.B. ästhetischen Standpunkt aus betrachten zu können. Genau hier bietet sich dann die Gelegenheit zum wildesten Reigen durch immer neue ironische Spielarten bis hin zu einem circulus vitiosus, einem Teufelskreis der peinlichsten Art. Hier kann man sich durch die eigenen Schützengräben jagen und die Fähigkeit der verschiedenen Bewusstseinsschichten zur gegenseitigen Vernichtung voll auskosten.
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Dieses Essay zum Beispiel ist ein typischer Versuch der Transformation. Der Autor leidet nicht, er füllt Seite um Seite und lässt sein Tun auch noch veröffentlichen.
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Auch das «Martyrium» einsamer Frauen zeigt eine Art Transformation – sie gewinnen an Ansehen.
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Der Mechanismus der Transformation ist wahrscheinlich der am wenigsten verbreitete.
IV
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Ist es möglich, dass «primitive Naturen» ohne all diese Krämpfe und Marotten auskommen und in Harmonie mit sich selbst leben, in ungestörter Freude am eigenen Tun und an der Liebe? Wenn man sie denn überhaupt als Menschen abstempeln kann, ist die Antwort meines Erachtens nein. Die Naturalisten stehen dem schönen biologischen Ideal immerhin etwas näher als wir Nicht-Naturalisten. Wir haben zwar das Gros der Menschen durch alle Widrigkeiten hindurch gerettet, das ist uns aber nur deswegen gelungen, weil wir uns auf die nur mässig entwickelten Seiten unserer Natur verlassen konnten. Schutz allein kann aber kein Leben hervorbringen, sondern nur sein Erlöschen verhindern. Die positive Grundhaltung des Menschen ist in der natürlich angepassten Nutzung der Energie des Körpers zu suchen sowie im biologisch nützlichen Teil der Seele.1 Die Begrenztheit der Sinne, die Ohnmacht des Körpers und die Notwendigkeit der Arbeit für den Lebensunterhalt und die Liebe nagen aber an ihr.
Zapffe spricht im Original von «naturfolkene», zu Deutsch «Naturvölkern». Naturvolk war ursprünglich ein kulturkritischer Begriff der europäischen Aufklärung. Die Grundgedanken dazu stammen von Rousseau und anderen Vordenkern der Aufklärung. Der Zivilisation des 18. Jahrhunderts wurde mit der romantischen Vorstellung des «edlen Wilden» ein Gegenbild des Menschen in seinem ursprünglichen Naturzustand entgegengesetzt. (Quelle: Zusammenzug aus Wikipedia zu Naturalismus)
Die letzten Sätze dieser Randziffer müssen noch genauer analysiert werden. Es ist beispielsweise nicht klar, was Zapffe unter dem «biologisch nützlichen Teil der Seele» versteht.
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Innerhalb dieser engen Grenzen des Glücks hat die wachsende Zivilisation, die Technik und die Standardisierung einen unheilvollen Einfluss: Weil ein immer grösserer Teil der Fähigkeit zur Erkenntnis für den Menschen überflüssig wird, macht sich zunehmend geistige Arbeitslosigkeit breit. Der Wert des technischen Fortschritts müsste eigentlich daran gemessen werden, inwieweit er der Menschheit die Möglichkeiten zurückgibt, wieder zu denken und sich geistig zu beschäftigen. Die Grenzen sind zugegebenermassen nur wenig scharf. Als ein positives Beispiel könnten aber trotz allem die ersten Schneidwerkzeuge dienen.
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Jede andere technische Erfindung hat für niemanden einen zusätzlichen Nutzen im Leben ausser für den Erfinder selbst; sie stellt einen unverschämten und rücksichtslosen Diebstahl am Erfahrungsschatz der gesamten Menschheit dar und sollte die schwerste Strafe nach sich ziehen. Ein Verbrechen dieser Art, um nur eines zu nennen, ist die Verwendung von Flugzeugen zur Erforschung unbekannter Gebiete. In einem einzigen Akt des Vandalismus werden so reiche Erfahrungsmöglichkeiten zerstört, die vielen Menschen hätten zugutekommen können, wenn jeder seinen gerechten Anteil erworben hätte. 2
Heute, nach 90 Jahren, liest sich Zapffe mit seiner Skepsis technischen Erfindungen gegenüber schon fast prophetisch. Die unerschöpfliche Vielfalt von Ablenkungsmöglichkeiten raubt dem Menschen das einzige, das er wirklich nur ein einziges Mal besitzt: seine Lebenszeit. In dieser Zeit könnte der Mensch vielfältige Erfahrungen machen, er verliert sich aber in Ablenkung.
Zapffes Abneigung gegen Flugzeuge rührt wahrscheinlich daher, dass er ein begeisterter Bergsteiger war. Er machte mehrere Erstbesteigungen und erlebte eine unberührte Natur.
Hinweis: Dieser Absatz wurde um wenige Worte gekürzt: «[…] und sollte die schwerste Strafe nach sich ziehen, wenn sie gegen das Veto des Zensors veröffentlicht wird.»
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Die heutige Phase des chronischen Lebensfiebers ist besonders durch die vorher beschriebenen Bedingungen gekennzeichnet. Der Mangel an natürlicher (biologisch) geerdeter geistiger Aktivität spiegelt sich u.a. im starken Rückgriff auf Ablenkung (Emotionen, Sport, Radio – der «Rhythmus der Zeit») wider. Für die Verankerung sind die Bedingungen schlechter – alle ererbten kollektiven Systeme von Verankerungen sind von Kritik durchlöchert und Angst, Ekel, Hilflosigkeit und Verzweiflung dringen ein, sie haben allesamt «Leichen im Keller». Kommunismus und Psychoanalyse, so schwer verdaulich sie auch sein mögen, versuchen letztlich beide (auch der Kommunismus hat Teile, die die Emotionen ansprechen), mit neuen Werkzeugen den alten Ausweg noch einmal zu ändern bzw. mit Gewalt und List den Menschen biologisch nutzbar zu machen, indem der kritische Bewusstseinsüberschuss abgeschnitten wird. In beiden Fällen liegt ein Gedanke zugrunde, der erschreckend logisch ist. Aber sie bringen keine endgültige Lösung. Die freiwillige Degeneration auf eine niedrigere, aber praktischere und glücklichere Stufe würde den Menschen zweifellos retten. Es liegt aber in unserer Natur, dass wir uns mit einer solchen Resignation nicht abfinden und nicht zur Ruhe kommen werden.
Zapffes Überlegungen zur freiwilligen Degeneration des Menschen könnten von Aldous Huxleys Roman «Brave New World» von 1932 inspiriert worden sein. Huxley skizziert eine dystopische Welt, in der Föten gezielt nach Kastenzugehörigkeit gezüchtet und die Babys von Anfang an indoktriniert werden. Die Kasten reichen von der höchsten Kaste «Alpha-Plus» bis zur niedrigsten Kaste «Epsilon-Minus». Die «Alphas» lenken die Geschicke der Gesellschaft, die «Epsilons» verrichten die einfachsten Arbeiten. Alle Menschen konsumieren das Leben lang «Soma», eine Droge, die negative Gefühle unterdrückt.
In seiner Dissertation «Om det tragiske» aus dem Jahr 1941 bezieht sich Zapffe explizit auf Huxley und lehnt dessen Idee der Genmanipulation zur Auslöschung des «metaphysischen Bedürfnisses» ab (S. 221). Huxleys Fiktionen sind angesichts der heutigen Technologien nicht mehr abwegig.
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Wenn wir diese Überlegungen konsequent zu Ende führen, ist das Ergebnis klar: Solange die Menschheit im verhängnisvollen Irrglauben verharrt, sie sei biologisch zum Triumph bestimmt, wird sich nichts ändern. In dem Masse, wie die Zahl der Menschen und der seelische Druck zunimmt, müssen auch die Schutzmechanismen immer brutaler werden.
Ray Bradburys dystopische Fiktion «Fahrenheit 451» von 1953 zeichnet das Bild einer solchen Gesellschaft. Die Menschen werden geistig klein gehalten und Bücher werden von «Feuerwehrmänner» systematisch verbrannt, manchmal mitsamt ihren Besitzern. Anstelle von Büchern sorgen Fernsehwände mit banalsten Fernsehserien für die notwendige Ablenkung. Wer sich dem System entzieht, sich nicht den Fernsehwänden hingibt oder gar liest, ist verdächtig und für das System gefährlich.
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Und die Menschen werden weiter von Erlösung und Bejahung und einem neuen Messias träumen. Aber wenn die Erlöser nach und nach an die Bäume genagelt und auf den Marktplätzen gesteinigt werden, dann wird auch die Stunde des letzten Messias geschlagen haben.
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Dann erscheint jener Mensch vor den Augen aller, der es als erster gewagt hat, seine Seele völlig zu entblössen und sie dem letzten Gedanken, dem Tod, ja der Vernichtung selbst auszuliefern. Ein Mensch, der das Leben in seiner allumfassenden Bedeutung begriffen hat und dessen Schmerz der ganze Schmerz allen Seins ist. Mit welchem wütenden Geschrei wird nicht der Pöbel aller Länder tausendfach seinen Tod fordern, wenn seine Stimme sich wie eine Hülle über den Erdball legt und die seltsame Botschaft zum ersten und einzigen Male erklingen lässt:
“ – Das Leben der Welten ist ein reissender Strom, die Erde aber ist nur ein Tümpel und Stauwasser.
– Der Untergang steht auf Eurer Stirn geschrieben – wie lange wollt ihr Euch dagegen wehren?
– Doch es gibt nur einen Sieg und eine Krone, eine Rettung und eine Antwort.
– Erkennt euch selbst, seid unfruchtbar und lasst die Welt nach Euch verstummen.“
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Und wenn er so gesprochen hat, werden sie über ihn herfallen, angeführt von den Schnullermachern und den Hebammen, und werden ihn unter ihren Fingernägeln begraben.
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Er ist der letzte Messias. Wie die Kinder von den Eltern, so entstammt er dem Bogenschützen am Wasserloch.
Peter Wessel Zapffe, 1933
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Weiterführede Lektüre:
- Erste Übersetzung auf englisch von Gisle R. Tangenes in Philosophy Now Nr. 45
- Paper von Ole Martin Moen in Neuroethics (Open Access), «Pessimism Counts in Favor of Biomedical Enhancement: A Lesson from the Anti-Natalist Philosophy of P. W. Zapffe», Neuroethics 14, 315–325 (2021) (DOI) (PDF-Download)
- The View from Mount Zapffem von Gisle R. Tangenes von OpenAirPhilosophy.org
- Einführung und englische Übersetzung von Trine Riel vom 25.11.2016 auf Medium, The Last Messiah – The unbearable heaviness of being, in this new translation of the strange yet influential antinatalist manifesto from 1933
- Summlung verschiedener Texte zu Zapffe, unbekannte Autorenschaft
- Wikipedia-Eintrag auf Englisch: The Last Messiah (Wikipedia)
- Scan von Janus Nr. 1 (nicht Nr. 9 mit dem Essays «Den Sidste Messias»)
- Wikipedia-Eintrag auf Norwegisch zu Janus
- Profil von LITTERATURNETT Nord-Norge zu Peter Wessel Zapffe
- Profil des norwegischen Vereins Kinder- und Jugendphilosophen ANS zu Peter Wessel Zapffe